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Kein Geld für Lehrer

Marc Koch, Buenos Aires22. Juni 2012

Schlecht bezahlte Lehrer und ein hoher Unterrichtsausfall in den Schulen: Das argentinische Bildungssystem hat seinen guten Ruf der 1970er Jahre längst eingebüßt. Auch neue Reformen greifen nicht im ganzen Land.

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Eine Studentin schreibt einen Slogan auf eine Tür an der Universität, die den Blick in einen leeren Klassenraum freigibt (Foto: ddp images/AP Photo/Natacha Pisarenko)
Bild: AP

Lio geht es gar nicht gut. Der 16-Jährige ist nervös, hat feuchte Hände und ein komisches Ziehen im Magen. Lio sitzt mit ein paar Leidensgenossen auf dem langen Flur seiner Oberschule in der Kleinstadt San Pedro in der Provinz Santa Fe und wartet. Darauf, dass seine Nachprüfung beginnt. Und er seine Versetzung in die nächste Klasse endlich klar machen kann.

Um acht Uhr sollte es losgehen, um halb zehn sitzen sie immer noch da. Es dauert dann nochmal eine halbe Stunde, bis jemand von der Schulverwaltung kommt und den jungen Leuten erklärt, dass sie wieder nach Hause gehen können. Heute keine Nachprüfung. Denn heute streiken die Lehrer. Wieder einmal. Während der Sommerferien hatten sich die Lehrergewerkschaften mit den Provinzregierungen und dem Erziehungsministerium herumgestritten, um Gehaltserhöhungen durchzusetzen - ohne Ergebnis. Als das neue Schuljahr begann, standen knapp sieben Millionen Schüler vor verschlossenen Türen.

"Die Bildungssituation ist kompliziert"

Luis Mesyngier sitzt in seinem Büro und lächelt gequält. Der Leiter der Oberstufe an der renommierten Pestalozzi-Schule in der Hauptstadt Buenos Aires hat nur ein Wort für die Bildungssituation in seinem Land: Kompliziert. Dabei meint er nicht einmal die schwierigen Organisationsstrukturen und das verwirrende Zuständigkeitsgeflecht, in dem zum Beispiel an bestimmten Privatschulen der Staat die Bezahlung der Lehrkräfte übernimmt. Mesyngier meint vielmehr einen schleichenden Prozess, der seit Jahrzehnten andauert und einen tiefer werdenden Graben durch das argentinische Bildungssystem zieht. Der Unterschied zwischen privaten und staatlichen Schulen wird immer größer.

Studentenproteste in Buenos Aires im September 2010 (Foto: dpa)
Demonstration in Buenos Aires: Schüler und Studenten fordern mehr Geld für die öffentliche BildungBild: picture-alliance/dpa Fotografia

Kein Respekt vor schlechtbezahlten Lehrern

In Argentinien besteht zwar Schulpflicht vom fünften Lebensjahr bis zum Ende der Oberstufe. Und der Staat muss für eine landesweite einheitliche Struktur, für die Finanzierung und für Chancengleichheit sorgen. Doch die Realität sieht anders aus. Bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gab kein lateinamerikanisches Land so viel Geld für Bildung aus wie Argentinien. Damals waren die Schulen so etwas wie ein Schmelztiegel der Gesellschaft: Arbeiterkinder lernten zusammen mit dem Nachwuchs von Angestellten und Unternehmern. Heute gibt der Staat trotz aller Versprechen der Regierung weniger Geld für Bildung aus - und das spüren vor allem die öffentlichen Schulen. Sie haben weniger Mittel und eine schlechtere Ausstattung als die privaten Institute, Stellen werden nicht besetzt, und die Lehrer verdienen deutlich weniger - ein ganz wichtiger Punkt, sagt Luis Mesyngier: Denn mit dem Gehalt sinkt das Ansehen des Lehrerberufs - Schüler und auch Eltern verlieren schlicht und einfach den Respekt vor den schlecht bezahlten Lehrern.

In der Provinz kommen Bildungsprogramme nicht an

Die Folgen sind klar: Durch die ständigen Streiks, die nicht besetzten Stellen und eine enorme Krankheitsquote beim Personal fallen an den staatlichen Schulen im Schnitt 30 Unterrichtstage im Jahr aus. Beim letzten weltweiten PISA-Test, an dem 65 Länder teilnahmen, landete Argentinien auf Platz 58, in Lateinamerika hat das Land seine Spitzenposition längst eingebüßt. Experten und auch Eltern klagen über die katastrophale Ausbildungssituation bei Fremdsprachen, die auch in Argentinien inzwischen ein entscheidender Karrierefaktor sind. Noch schwieriger ist die Situation in der Provinz: Tausende Kilometer von der Hauptstadt entfernt, wo die staatlichen Bildungsprogramme nicht greifen, ist Schulpflicht eher ein theoretischer Begriff. Viele Kinder sind tagsüber eher beim Ziegenhüten als in den bröckelnden Gebäuden der Dorfschulen zu finden.

Wer es sich irgendwie leisten kann, zieht die Notbremse: Lios Eltern haben ihren Sohn zum neuen Schuljahr an einer Technischen Oberschule in Buenos Aires angemeldet. Die hat einen ausgezeichneten Ruf - auch, weil ihre Absolventen oft einen Job bei einem großen deutschen Autohersteller im Land finden.

Marc Koch hat zweieinhalb Jahre die Lateinamerika-Abteilung der DW geleitet und ist seit Januar 2012 Leiter des neuen DW-Büros in Buenos Aires.