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Ankara will nicht länger auf Brüssel warten

Senada Sokollu16. Oktober 2013

Mit Spannung wird der jährliche Fortschrittsbericht über Demokratie und Grundrechte in der Türkei erwartet. Von ihm macht die EU weitere Beitrittsverhandlungen abhängig. In der Türkei aber schwindet die Lust auf Europa.

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Hinter dem Denkmal für den Unbekannten Soldaten in Ankara wehen türkische Fahnen im Wind (Foto: Tarik Tinazay dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Das Jahr 2013 stellte einen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union dar. Vor allem das heftige Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten bei Massenprotesten rund um den Istanbuler Gezi-Park sorgte für Irritationen: So wollte Brüssel eigentlich schon im Juni die Gespräche über das Kapitel 22 für "Regionalpolitik und Koordination strukturpolitischer Instrumente" eröffnen. Doch die Niederlande und Deutschland blockierten - eben wegen des Umgangs der Regierung mit den Demonstrationen.

Außerdem umstritten: Ankaras Interpretation der Pressefreiheit. Hier bestehe "nach wie vor eine Einschränkung", kritisiert Maurice Ripert. Der Vorsitzende der Türkei-Delegation der EU erwartet deshalb auch, dass es in dem für diesen Mittwoch (16.10.2013) erwarteten Fortschrittsbericht der EU-Kommission auch um Einschüchterungsversuche der Politik und die Selbstzensur türkischer Medien gehen wird. Der französische Diplomat spricht von einer "durchwachsenen Situation" bei den Menschenrechten.

Aus Brüssel kommt nicht nur Kritik: Vergangene Woche zeigte sich die EU erfreut über das neue "Demokratiepaket" Ankaras und lobte Erdogans Reformen. Das Paket beinhaltet unter anderem eine Lockerung des Kopftuchverbots sowie mehr Rechte für die Minderheiten. Als Fortschritt bewertet beides der EU-Kommissar für Erweiterung, Stefan Füle.

EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle und türkischer Außenminister Egemen Bagis (Foto:AP/dapd)
Schwere Verhandlungen - EU-Erweiterungskommissar Füle (l.) und der türkische Europaminister BagisBild: dapd

Türkisches Interesse nimmt ab

Die Türkei ist seit 2005 offizieller EU-Beitrittskandidat. Doch in der Türkei scheint das Interesse an Europa abzuflachen. So zeigt eine aktuelle Umfrage, dass heute nicht mal mehr jeder zweite Türke eine Mitgliedschaft befürwortet. Im Jahr 2004 waren es noch drei von vier Befragten. Gleichzeitig spricht sich rund ein Drittel ausdrücklich gegen einen EU-Beitritt der Türkei aus, vor neun Jahren waren es nur neun Prozent.

Auch die Politik verbreitet inzwischen immer weniger Hoffnung bei dem Thema: So ist der türkische Europaminister Egemen Bagis der Meinung, dass die Türkei womöglich niemals EU-Mitglied wird. "Langfristig gesehen denke ich, dass die Türkei ähnlich wie Norwegen enden wird. Wir werden die europäischen Standards erreichen, eng aufeinander abgestimmt sein, aber wir werden niemals Mitglied werden", wird Bagis von der türkischen Zeitung "Hürriyet" zitiert.

Andere Töne kommen aus den Wirtschaftskreisen. So findet Muharrem Yilmaz, Vorsitzender der Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute (TÜSIAD), dass die Türkei ihre Bemühungen wieder verstärken muss, wenn sie wirtschaftliches Wachstum, politische Stabilität und Demokratisierung will. Ähnlich äußerte sich der ehemalige Wirtschaftsminister Kemal Dervis in der "Hürriyet".

Experten befürworten EU-Beitritt

"In wirtschaftlicher Hinsicht braucht die Türkei die EU", sagt im DW-Gespräch der Ökonom und Wirtschaftsjournalist Mustafa Sönmez. "Es ist wichtig, ein EU-Mitglied oder ein EU-Beitrittskandidat zu sein, wenn es um ausländische Investitionen geht." Alleine die EU-Bestrebungen Ankaras zögen Investoren aus dem Ausland an, glaubt Sönmez.

Mustafa Sönmez (Copyright: DW)
"Türkei braucht EU", sagt Mustafa SönmezBild: privat

Die Politikwissenschaftlerin Senem Aydin sieht die EU als Motor des Demokratisierungsprozesses im Land. "Vor allem in den letzten fünf Jahren wurde deutlich, dass die türkische Demokratie ohne den Einfluss aus der EU gelitten hätte", so Aydin im DW-Gespräch. Aus dem neuen Demokratisierungspaket Erdogans schöpft sie keine Hoffnung auf Besserung der Beziehungen zur EU. Viel wichtiger sei es, das Zypernproblem zu lösen, vorher rechnet die Politikwissenschaftlerin nicht mit Fortschritten in den Beitrittsverhandlungen.