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"Ich habe Angst, zu protestieren"

Astrid Prage (Rio de Janeiro)23. Juni 2014

Es ist mehr als eine Protestpause während der WM. Ein Jahr nach Beginn der Massendemos beim Confed-Cup hat die Bewegung in Brasilien den Rückhalt in der Bevölkerung verloren, denn Gewalt verdrängt zunehmend die Inhalte.

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Lehrer demonstrieren vermummt gegen Bildungspolitik in Rio de Janeiro (Foto: Fernando Frazao/ABr)
Bild: Fernando Frazão/ABr

Es ist eine merkwürdige "Geburtstagsfeier". Maskierte Männer schlagen in einem Autohandel eine Windschutzscheibe nach der anderen ein. Vor dem Geschäft türmen sich die Glasscherben auf dem Pflaster. In unmittelbarer Nähe, auf São Paulos Ausfallstraße "Marginal Pinheiros", lodern brennende Reifen in der Dunkelheit.

Die "Geburtstagsfeier", die an den Beginn der Massenproteste vor einem Jahr in Brasilien erinnern sollte, spielte sich nur wenige Kilometer entfernt von São Paulos WM-Stadion "Itaquerão" ab, wo im selben Moment die Mannschaften Uruguays und Englands aufeinander trafen.

"Die WM dient nicht im Geringsten den Interessen der Bevölkerung, sondern privaten Organisationen wie der FIFA", schimpft Victor Khaled, Aktivist in der brasilianischen Bewegung für kostenlosen Nahverkehr "Movimento Passe Livre" (MPL). Die Bewegung organisierte vor einem Jahr die Demonstrationen gegen die Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr von São Paulo und löste damit die landesweite Protestwelle aus.

Anfeuern statt Aufstand

Doch während im Juni 2013 Millionen von Menschen auf die Straße gingen, um gegen teure WM-Arenen und schlechte Infrastruktur zu protestieren, starren an diesem Tag Millionen von Brasilianern auf den Bildschirm. Die Partie zwischen Uruguay und England fesselt die Fans. Immer weniger Menschen gehen demonstrieren, viele haben Angst vor Gewalt und Randalen.

Bei den WM-Kritikern herrscht deshalb alles andere als Feierlaune. "Sehr viele Menschen haben Angst. Ich habe auch Angst, auf eine Demo zu gehen und bereite mich daher immer entsprechend darauf vor", gibt Rafael Portella von der WM-kritischen Vereinigung "Comitê Popular da Copa" aus São Paulo zu. Immer öfter würden sich die Leute von der Bewegung mit dem Argument - 'Ich bin für die Proteste, aber gegen den Vandalismus' - distanzieren.

Polizisten und maskierte Demonstranten in Brasilien (Foto: imago stock&people)
Vermummung bei Protesten ist in Brasilien erlaubtBild: imago stock&people

Die Unterstützung für WM-Kritiker und Protestkundgebungen ist in der brasilianischen Bevölkerung massiv zurückgegangen. Lag die Zustimmung im Juni 2013 noch bei 81 Prozent, erreichte sie im Februar dieses Jahres laut dem Meinungsforschungsinstitut Datafolha gerade noch 52 Prozent. Die Ablehnungsrate hingegen stieg im selben Zeitraum von 15 auf 42 Prozent.

Die Botschaft ist angekommen

Brasiliens Gesellschaft ist gespalten. Doch auch die Bewegungen selbst scheinen untereinander zerstritten. "Was veranlasst ein halbes Dutzend Demonstranten, öffentliches Eigentum zu zerstören, nur weil sie meinen, 200 Millionen Landsleute zu vertreten?" ärgert sich der Student Douglas Guedes aus Brasília, der nicht mehr auf Kundgebungen geht. "Ich weiß nicht, wer schlimmer ist, die korrupte Regierung oder die Randalierer, die sich in den Vordergrund drängen."

Doch auch wenn die Proteste mittlerweile von einigen Brasilianern als Plattform einer radikalen Minderheit betrachtet werden, sind ihre Anliegen in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. "Die Proteste brachten die Verzweiflung der Brasilianer gegenüber Korruption, Inflation und minimalem Wirtschaftswachstum zum Ausdruck", schrieb die Tageszeitung "Folha de São Paulo" kürzlich in einem Leitartikel.

"Die ganze Gesellschaft hat ihre Unzufriedenheit mit den öffentlichen Dienstleistungen zum Ausdruck gebracht", schrieb die Zeitung. Denn trotz der hohen Abgaben decke die staatliche Grundversorgung in vielen Bereichen nicht die Bedürfnisse der Bevölkerung ab: Gesundheit, Bildung, Sicherheit, Abwasserentsorgung und eben im öffentlichen Nahverkehr.

Plakat der Vierten Rebellen-WM IV Copa Rebelde (Foto: coparebelde.wordpress.com, Comitê Polpular da Copa Sao Paulo)
Der Versuch eines friedlichen Ansatzes: das alternative Fußballturnier "Copa Rebelde"Bild: coparebelde.wordpress.com

Die Anhänger der Bewegung "Movimento Passe Livre (MPL)" ziehen deshalb eine positive Bilanz der Massenproteste. "Das Ergebnis kann sich sehen lassen", meint Aktivist Victor Khaled. "Die Frage des Massentransports ist in die nationale politische Agenda Brasiliens aufgenommen worden, und in 100 Städten, darunter Rio und São Paulo, wurden die Preiserhöhungen zurückgenommen."

Infiltration und Randale

Dass es aber auch Städte gibt, die ihre Fahrpreise inzwischen wieder angehoben haben, ist ein Rückschlag. Schwerer aber wiegt, dass das erfolgreiche Agenda-Setting von zunehmender Gewalt überschattet wird. Am 6. Februar dieses Jahres erreichte sie mit dem Tod des Kameramanns Santiago Andrade vom brasilianischen TV-Sender "Bandeirantes" einen traurigen Höhepunkt. Andrade wurde von einem Feuerwerkskörper an der Schulter getroffen, der von Demonstranten abgeworfen worden war, und erlag seinen Verletzungen im Krankenhaus. Bei derselben Kundgebung in Rio wurde auch DW-Reporter Philipp Barth angegriffen, allerdings von der Militärpolizei.

Die Angst vor der brasilianischen Militärpolizei ist bei den Aktivisten wesentlich stärker ausgeprägt als die Abneigung gegenüber den gewaltbereiten so genannten Schwarzen Blocks. "Unsere Demos sind offen für alle, wir werden niemanden mit Gewalt ausstoßen, und deshalb sind wir sind völlig dagegen, die Schwarzen Blocks auf unserer Demo zu verbieten", stellt Rafael Portella vom "Comitê Popular da Copa" in São Paulo klar. "Ich kann es verstehen, dass man in Brasilien auf einer Demo sein Gesicht vermummt", sagt er und spielt damit auf die Repressalien der Militärpolizei an.

Copacabana Fans und Demonstranten 12.06.2014 (Foto: Getty Images)
Die Kluft zwischen Fans und Demonstranten wächstBild: Getty Images

Für den Meinungsforscher Valeriano Costa von der Universität Campinas deute die zunehmende Radikalisierung und Gewalt auf ein Ende der Protestbewegung hin. Die Forderungen nach Reformen seien schon immer sehr allgemein gewesen, weil sich so viele unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen an den Protesten beteiligt hätten. "Nun", meint Costa, "offenbart sich ein inhaltliches Vakuum."