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Angriff, Gegenangriff und Tote in Kiew

Roman Goncharenko, zurzeit Kiew22. Januar 2014

Zwei Monate nach Beginn der Proteste sind in der Ukraine erste Todesopfer zu beklagen. Mindestens fünf Menschen starben, einige bei Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Straßenkämpfe in Kiew dauern an.

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Demonstration und Proteste in Kiew (Foto: REUTERS/Gleb Garanich)
Bild: Reuters

Switlana möchte ihren wahren Namen nicht nennen. Auch keine Fotos, bittet die zierliche junge Frau Anfang 20. Nach neuen Gesetzen, die seit dieser Woche in der Ukraine gelten, könnte Switlana für mehrere Jahre wegen "Extremismus" im Gefängnis landen. Denn sie nimmt an den oppositionellen Protesten in der ukrainischen Hauptstadt teil. Die Medizinstudentin aus der Westukraine arbeitet seit kurzem in Kiew als freiwillige Krankenschwester.

In der Nacht auf Mittwoch (22.01.2014) sah Switlana, wie ein junger Mann in das provisorische Krankenzentrum der Opposition an der Hruschewski-Straße eingeliefert wurde. "Man brachte ihn gegen 5.30 Uhr morgens zu uns", sagt Switlana im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Er hatte vier Schusswunden: zwei am Kopf und zwei im Brustbereich." Man habe ihn eine Viertelstunde lang versucht wiederzubeleben, dann habe ein Krankenwagen den Verletzten in eine Klinik gebracht, erzählt die Augenzeugin. Dort starb der Mann. Sein Name ist inzwischen bekannt: Serhij Nihojan, ein Armenier aus der Ostukraine.

Todesopfer überschatten die Proteste

Zeltstadt auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz (Foto: DW)
Seit November harren Demonstranten in einer Zeltstadt auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz ausBild: DW/R. Goncharenko

Zum ersten Mal in der jüngsten Geschichte der Ukraine gibt es Todesopfer bei Protesten gegen die Regierung und den Präsidenten zu beklagen. Es sind auch die ersten Todesopfer seit Beginn der aktuellen Protestwelle am 21. November 2013. Auslöser war der Kurswechsel des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch, der eine geplante Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union auf Eis gelegt hatte. Seitdem treibt Janukowitsch eine Annäherung an Russland voran. Vor allem in Kiew gehen Zehntausende auf die Straßen, um gegen diese Politik zu protestieren.

Nihojan ist nicht der einzige oppositionelle Aktivist, der an diesem Tag starb. Aus den Reihen der Opposition heißt es, fünf Demonstranten seien getötet worden, vier davon seien an den Folgen von Schussverletzungen gestorben. Lokale Medien berichten darüber hinaus, dass ein junger Mann von einer über zehn Meter hohen Säule im Eingangsbereich des Dynamo-Stadions gestürzt sein soll. Dort, wenige hundert Meter vom Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz entfernt, spielen sich seit vergangenem Sonntag brutale Gewaltszenen ab. Hunderte junge Männer, bewaffnet mit Holzknüppeln und Eisenstangen, versuchen, in das abgesperrte Regierungsviertel zu gelangen. Sie werden immer wieder von der Polizei abgedrängt. Auf jeden Angriff folgt ein Gegenangriff. Die Polizei setzt dabei Gummigeschosse, Tränengas und Blendgranaten ein. Demonstranten werfen Steine und Molotow-Cocktails.

Es sind kriegsähnliche Zustände, die derzeit in der Kiewer Innenstadt herrschen. Der Schnee auf der Hruschewski-Straße ist grau vom Diesel aus den verbrannten Polizeibussen. Es brennen Reifen auf Barrikaden, schwarzer Rauch steigt in den grauen Himmel. "Ja, es ist wie ein Bürgerkrieg", sagt die freiwillige Krankenschwester Switlana. Am meisten überrascht sei sie über "die Gleichgültigkeit der Polizisten". "Wir schauen ihnen in die Augen und sie schlagen mit Knüppeln auf ihre Schilder, um uns nicht zu hören", sagt die junge Frau mit trauriger Stimme.

Tag der Vereinigung der Ukraine

Viele Menschen auf Kiews Straßen sind empört über den Einsatz der Polizei. "Es ist eine Schande", sagt Leonid, ein Mann Anfang 60. Er sagt, die Polizei sei gegen das Volk vorgegangen und müsse dafür bestraft werden. Jüngere Männer, die auf dem Maidan stehen, sagen in Gesprächen ohne Mikrophon, sie seien bereit, das Präsidialamt zu stürmen und bräuchten nur Waffen dafür.

Am Dienstagabend will die Opposition einen Marsch durch Kiews Straßen veranstalten. Anlass ist der "Tag der Einheit". Der Feiertag erinnert an die Vereinigung der Westukrainischen Volksrepublik mit der Ukrainischen Volksrepublik im Jahr 1919, die die zentral- und ostukrainischen Gebiete umfasste. Damals hatte sich die Ukraine unabhängig von Russland und Polen erklärt. Diese Unabhängigkeit dauerte damals aber nur wenige Monate.

Schuldzuweisungen zwischen Regierung und Opposition

Molotow-Cocktails auf Kiews Straßen (Foto: DW)
Für den Einsatz von Molotow-Cocktails auf Kiews Straßen macht die Regierung die Opposition verantwortlichBild: DW/R. Goncharenko

Die ukrainische Regierung weist der Opposition die Schuld für die Eskalation der Gewalt zu. Das erklärte der Ministerpräsident Mykola Asarow, der sich bei der Polizei für ihren Einsatz bedankte. Oppositionsführer wie Vitali Klitschko beschuldigen ihrerseits die Regierung und den Präsidenten und fordern deren Rücktritt. Viel Einfluss auf die Demonstranten scheinen die Oppositionsführer allerdings nicht zu haben. Vermummte Regierungsgegner schimpfen auf die oppositionellen Politiker, die aus ihrer Sicht nichts erreicht haben.

Ein Massenaufstand, wie die Opposition gehofft hatte, ist bisher ausgeblieben. In der Kiewer Innenstadt befinden sich einige tausend Demonstranten. Einige Straßen weiter merkt man kaum, dass die Lage dramatisch eskaliert. Die freiwillige Krankenschwester Switlana hofft, dass doch mehr Menschen aus anderen Regionen der Ukraine nach Kiew kommen. "Wenn wir verlieren, werde ich die Ukraine wohl verlassen müssen", sagt Switlanas Freundin und Kollegin, die auch anonym bleiben möchte. Viel Zeit haben die beiden nicht. Nach einer kurzen Pause gehen sie wieder auf die Straße, um Verletzten zu helfen.