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"EU sollte ständig in der Ukraine präsent sein"

Nina Werkhäuser9. Februar 2014

Es sei zu wenig, wenn hochrangige EU-Politiker alle paar Wochen für einen Tag in die Ukraine reisten, sagt der Schriftsteller und Janukowitsch-Gegner Juri Andruchowytsch. Die EU müsse eine ständige Mission einrichten.

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Juri Andruchowitsch im Porträt (Foto: DW)
Bild: picture-alliance/APA/picturedesk.com

Deutsche Welle: Trotz der Gewalt von Regierungsseite, trotz massiver Einschüchterungsversuche demonstrieren die Menschen in der Ukraine weiter. Was treibt sie an?

Juri Andruchowytsch: Der Kern dieser Proteste besteht aus sehr intelligenten Leuten. Das sind Leute, die diese Methode, die Taktik der Einschüchterung sehr gut verstehen. Sie verstehen auch, dass die einzige Möglichkeit der Gegenwehr ist, keine Angst zu haben und auf jede Gewalt mit einer neuen Welle des Protestes zu antworten.

Die Proteste dauern seit dem 21. November 2013, und einige Demonstranten sind von Anfang an dabei. Es ist ihnen unmöglich, einfach vom Maidan wegzugehen. Das, was sie dort tun, ist Teil ihres Lebens, es ist für sie lebensnotwendig. Ich bin sicher, dass sie nicht müde werden und nicht von dort weggehen werden, bevor sie nicht ein bedeutendes Ergebnis erreicht haben.

Welches Ergebnis erwarten die Demonstranten?

Das Assoziierungsabkommen mit der EU muss unterzeichnet werden. Es muss vorgezogene Präsidentschaftswahlen geben. Eine Experten-Regierung sollte die Wirtschaft des Landes retten und nicht den Clan des Präsidenten bedienen.

Ukraine Protestcamp Kiew 08.02.2014
Der Maidan am 8. Februar: Die Menschen harren ausBild: DW/O. Sawizki

Sie haben kürzlich gesagt, sie hätten den Eindruck, Todesschwadronen zögen durchs Land und holten die Besten. Was meinen Sie damit?

Die Journalistin Tetjana Tschornowol war eines der ersten Opfer. Sie wurde in der Nacht zum 25. Dezember fast totgeprügelt. Sie schreibt über das Thema, das für die Machthaber in der Ukraine am sensibelsten ist: über deren Immobilien, ihr Eigentum, ihre Villen und Paläste. Und dafür haben sie sich gerächt.

Seitdem gab es Dutzende solcher Fälle. Das passiert immer irgendwo außerhalb der Stadt. Die Leute werden von geheimnisvollen "Zivilisten" gefoltert. Diese stellen den Aktivisten immer die gleiche Frage: Wer bezahlt den Maidan? Ist das amerikanisches Geld oder wer steht hinter diesem Protest? Das verrät doch einiges. Ich weiß nicht, wer sie sind, wahrscheinlich Sicherheitskräfte. Diese Leute können sich nicht vorstellen, dass hinter diesem Protest einfach eine große Idee steht und eine sehr große Emotion.

Nur mit Maske und Schutzbrille unterwegs

Wenn Sie selbst zu den Demonstrationen gehen, rüsten Sie sich dann auch mit einem Helm und gepolsterter Kleidung aus?

Ja, seit dem 22. Januar mache ich das. Die Helme waren in Kiew ausverkauft, aber ich habe eine Gesichtsmaske gegen Tränengas und eine Schutzbrille, die wurden auf dem Maidan verteilt. Viele Demonstranten haben ja bereits Augenverletzungen davongetragen. Die Situation ist weiterhin gefährlich. Wenn wir hören, dass die Eskalation einigermaßen gestoppt wurde, dann ist das einerseits richtig. Aber es sieht andererseits so aus, als mache das Regime nur eine Pause und ordnete seine Kräfte neu.

Was denken Sie, wie es in den nächsten Wochen weitergehen wird?

Es ist sehr schwer, eine Prognose abzugeben. Alles ist möglich. Extreme Varianten wären die gewaltsame Konfrontation mit einer Vernichtung des Maidan und dem Ausnahmezustand oder aber ein Rücktritt von Präsident Janukowitsch. Meiner Einschätzung nach wird etwas passieren, das zwischen diesen beiden Extremen liegt. Es gibt die Hoffnung, dass das Parlament Lösungen hervorbringt, aber bisher war das Parlament eher unproduktiv. Insgesamt ist die Situation zäh. Jeder Schritt, den die Staatsmacht auf die Demonstranten zugeht, wird später wieder annulliert.

Catherine Ashton in Kiew 05.02.2014
Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton mit Präsident JanukowitschBild: Reuters

Welche Unterstützung erwarten Sie aus dem Ausland, insbesondere von der Europäischen Union?

Ich denke, dass die EU eine ständige Mission in der Ukraine einrichten sollte. Politiker und Diplomaten aus der EU sollten ständig in Kiew präsent sein, die Entwicklung verfolgen und entsprechend agieren. Es scheint mir zu wenig zu sein, wenn die Außenbeauftragte Ashton und EU-Kommissar Füle alle paar Wochen für einen Tag nach Kiew kommen, mit dem Präsidenten und mit den Demonstranten sprechen und dann wieder abreisen. Strategisch gesehen ist es natürlich wichtig, dass die Ukraine die Perspektive einer EU-Mitgliedschaft hat, auch wenn das eher eine langfristige Perspektive ist.

Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit sammeln

Wie kann die ukrainische Gesellschaft in der Zukunft mit den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der vergangenen Wochen umgehen?

Ich halte es für notwendig, eine Expertenkommission einzurichten, die die Fakten und Beweise über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammenträgt, die verübt wurden. Darin sollten auch Experten aus dem Ausland mitarbeiten, denn die Dimensionen sind so groß, dass wir das mit unseren eigenen juristischen Fähigkeiten und Erfahrungen nicht bewerkstelligen können.

Alles sollte untersucht werden: Es wurden verbotene Geschosse eingesetzt und Wasserwerfer bei frostigen Temperaturen, es gab Fälle von Folter, bis zu 40 Personen sind bis heute verschollen. Die ukrainische Gesellschaft wird diesen Prozess brauchen, damit sich so etwas nie wiederholt. Es ist sehr wichtig, einmal diese Linie aufzuzeigen, die das Ende einer solchen Politik und dieser Repressalien markiert.

Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch einer der führenden Intellektuellen seines Landes. Er unterstützt die Proteste gegen Präsident Viktor Janukowitsch und tritt für einen pro-europäischen Kurs der Ukraine ein.

Die Fragen stellte Nina Werkhäuser.