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"Trotz Terror Menschenrechte beachten"

Dennis Stute25. Februar 2015

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) hat ihren Jahresbericht vorgelegt. Steve Crawshaw von AI erklärt im DW-Interview, warum die Bilanz dieses Mal noch düsterer ausfällt als sonst.

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Angehörige der Terrormiliz "Islamischer Staat" im syrischen Raqqa (Archivbild: AP)
Bild: picture-alliance/AP Photo

DW: Enthält der Jahresbericht von Amnesty International im Vergleich zu den Vorjahren auffällige Entwicklungen?

Steve Crawshaw: Wir dokumentieren jedes Jahr sehr schwere Menschenrechtsverletzungen, aber 2014 war ein besonders entsetzliches Jahr. Es geschehen so viele Dinge gleichzeitig: Von Nigeria über Syrien und Gaza bis in die Ukraine haben wir furchtbare Gewalt gesehen, die sowohl von Regierungen als auch von nichtstaatlichen bewaffneten Gruppen ausging. Das ist zutiefst beunruhigend. Menschenrechtsverletzungen scheinen eher zu- als abzunehmen.

Dem Bericht zufolge haben nichtstaatliche Gruppen wie Boko Haram, die Taliban oder der "Islamische Staat" in jedem fünften untersuchten Land Menschenrechtsverletzungen begangen. Sind solche Gruppen eine wachsende Bedrohung?

Wir registrieren seit Jahren enorme Probleme mit bewaffneten Gruppen, aber nun gibt es eine besorgniserregende Ausbreitung - und das nicht nur in einer Region der Welt. Parallel dazu registrieren wir extrem einseitige Verhaltensweisen von Regierungen. Während zum Beispiel die Verbrechen von Boko Haram in Nigeria ein großes Thema sind, bekommen die Verbrechen des nigerianischen Militärs - das selbst Menschen geköpft und die Taten auf Video aufgezeichnet hat - sehr viel weniger Aufmerksamkeit. Das Problem mit dem gesetzlosen Wahnsinn der bewaffneten Gruppen in vielen Regionen der Welt ist größer denn je.

Diese Gruppen gedeihen in fragilen und gescheiterten Staaten. Sind schwache Staaten ein zunehmendes Problem?

Fragile und gescheiterte Staaten, wie sie manchmal genannt werden, sind kein neues Phänomen. Das Problem heute ist, dass sie außer Kontrolle geraten. Die Situation im Irak, in Syrien und der ganzen Region ist auch mit Blick auf die Zukunft sehr besorgniserregend. Wenn wir mit neuen Problemen konfrontiert werden, dann zögern wir häufig, sie anzupacken. Doch es hat sich gezeigt, dass es die Lage nur verschärft, wenn man sich Problemen zu spät widmet. Wenn der UN-Sicherheitsrat vor Ausbruch des Krieges in Syrien angemessen auf die Gewalttaten gegen friedliche Demonstranten reagiert hätte, wären wir heute vermutlich nicht da, wo wir sind.

Sieht der Westen nach den negativen Erfahrungen mit der Arabellion in Diktaturen inzwischen vielleicht oft das kleinere Übel?

Ich glaube, dass viele Regierungen mit ihrer Kritik zu selektiv sind. Es gibt zum Beispiel eine große Zurückhaltung, Saudi-Arabien zu kritisieren - westliche Regierungen schrecken aus strategischen und geopolitischen Gründen davor zurück. Dabei braucht Saudi-Arabien sehr dringend die Einhaltung grundlegender Rechte; deshalb müssen Regierungen ihre Stimme erheben. Im Fall von Syrien haben Russland und China Resolutionen des Sicherheitsrates blockiert. Es gab andere Konflikte, wie beispielsweise im Gaza-Streifen, während derer die Vereinigten Staaten wiederholt ihr Veto eingelegt haben. Eine Schlüsselforderung von Amnesty International im neuen Jahresbericht ist es daher, dass die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates ihr Vetorecht aufgeben, wenn es zu massenhaften Gewalttaten oder anderen sehr schweren Menschenrechtsverletzungen kommt. Wenn schreckliche Dinge passieren, kann man nicht einfach in die andere Richtung schauen – aber das hat der Sicherheitsrat in den vergangenen Jahren viel zu oft getan.

Steve Crawshaw ist Direkter des Büros des Generalsekretärs von Amnesty International in London (Foto: AI)
Steve Crawshaw von Amnesty InternationalBild: 2006 Yael Gottlieb/Human Rights Watch

Was muss Ihrer Meinung nach außerdem geschehen?

Eine wichtige Sache wäre, den Vertrag über den Waffenhandel wirklich umzusetzen. Amnesty International und andere haben sich zwanzig Jahre lang für einen Vertrag eingesetzt, der die Lieferung von Waffen verbietet, wenn sie für massenhafte Grausamkeiten verwendet werden könnten. Obwohl Viele das damals für unmöglich gehalten haben, existiert er heute. Das Problem ist nur, dass ihn zwar viele Staaten unterzeichnet, aber viel zu wenige ratifiziert haben.

Außerdem dürfen wir vor dem Hintergrund der jüngsten Terroranschläge nicht die Fehler wiederholen, die nach den Anschlägen vom 11. September 2001 gemacht worden sind, nämlich als Antwort auf die Bedrohung die grundlegenden Menschenrechte außer Kraft zu setzen. Wir fürchten, dass das wieder passieren könnte. Ein weiterer Punkt ist, dass wir Flüchtlingen mit Großzügigkeit begegnen müssen, ihnen eine offene Tür bieten.

Was sagt der Bericht für 2015 voraus?

Es besteht ganz klar die Gefahr, dass sich die Lage verschlimmert. Wir sehen derzeit, dass bewaffnete Gruppen immer stärker werden, wir sehen die Bedrohung der Redefreiheit und grundlegender Rechte und wir sehen eine schlimmer werdende Flüchtlingskrise. Häufig gibt es den Reflex, sich von den Problemen abzuwenden, weil sie so groß sind - aber es hat sich immer und immer wieder gezeigt, dass sie dadurch nicht verschwinden.

Wie schätzen Sie die Lage in Deutschland an?

Wir haben Angriffe auf Asylsuchende und Minderheiten gesehen und wir haben vonseiten der Politik natürlich Verurteilungen der Angriffe gehört. Aber diese Verbrechen werden nicht ausreichend untersucht und verfolgt. Ein anderer Bereich sind Misshandlungsvorwürfe gegen die Polizei. Wir vermissen eine unabhängige Beschwerdekommission, die Menschenrechtsverletzungen untersucht. In nur vier von 16 Bundesländern sind Polizisten verpflichtet, Schilder mit Namen oder Dienstnummern zu tragen - die fehlenden Identifikationsschilder in den anderen Ländern erleichtern Übergriffe.

Ein wichtiges außenpolitisches Thema ist natürlich der Ukraine-Konflikt und die fürchterlichen Verbrechen, die dort begangen werden. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel spielt eine wichtige Rolle und wir haben es begrüßt, wenn sie ihre Stimmer erhoben hat. In der Vergangenheit hat es Deutschland zu oft vorgezogen, sich gegenüber Ländern in der Nachbarschaft - wie der Ukraine, Russland oder zentralasiatischen Ländern, in denen es schwere Menschenrechtsverletzungen gab - nicht deutlich zu äußern.

Im Lauf der Jahre ist immer deutlicher geworden, dass Geschäfte im Zweifel wichtiger sind als Menschenrechte - zum Beispiel in China. Das ist eine völlig falsche Herangehensweise, nicht nur mit Blick auf die Opfer, sondern auch mit Blick auf die globale Stabilität. Deutschland sollte seine Stimme erheben, wenn es nötig ist - und nicht, wenn es gerade passt.

Steve Crawshaw ist Direktor des Büros des Generalsekretärs von Amnesty International in London.