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Gemeinsam lernen statt betreuen

Anke-Martina Witt5. Juli 2014

Wie klappt das gemeinsame Lernen von Menschen mit und ohne Behinderung? An der Uni Hannover erleben Studenten es selbst im Seminar. In Lerngruppen arbeiten sie mit behinderten Teilnehmern zusammen.

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Behinderte und nicht-behinderte Teilnehmer des Projekt "Gemeinsam Lernen" der Uni Hannover (Copyright: Uni Hannover)
Bild: Sarah Springstein

Freitagvormittag. Ein heller Seminarraum im Institut für Sonderpädagogik an der Leibniz-Universität Hannover. Rauchende Köpfe. Sollen in der Europäischen Union gentechnisch veränderte Pflanzen angebaut werden oder nicht? Die Studenten Jonas und Timo sitzen gemeinsam mit dem geistig behinderten Thorsten vor einem aufgeklappten Laptop und schauen sich kurz ratlos an. "Dann ist ja etwas Falsches in der Pflanze drin und wir werden davon krank", gibt der 22-jährige Thorsten zu bedenken. Die beiden anderen nicken – und entscheiden sich für "Nein".

Alltag in einem Uni-Seminar. Eigentlich. Doch es ist ein besonderes Seminar mit besonderen Lerngruppen, denn einmal die Woche treffen sich hier 18 Studierende der Sonderpädagogik und zehn Menschen mit Behinderung, um gemeinsam in Gruppen zu arbeiten und zu lernen. Nicht als Betreuer und Betreute, sondern als gleichberechtige Seminarteilnehmer.

Inklusion mit Leben füllen

"Gemeinsam Lernen" heißt das Forschungsprojekt, das die Professorin für allgemeine Behindertenpädagogik und -soziologie, Bettina Lindmeier, vor mehr als zwei Jahren ins Leben gerufen hat. Sie wollte den allgegenwärtigen Begriff "Inklusion" mit mehr Leben füllen und ihren Studierenden schon an der Universität zeigen, was Inklusion eigentlich bedeutet. Denn, so glaubt die Professorin, im Berufsleben begegnet ihnen das Thema sofort.

"Die Studierenden sollen selbst erst einmal erfahren, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt zu lernen und dass sie auch in einer gemischten Gruppe genauso viel, vielleicht sogar mehr lernen als in einem gewöhnlichen Seminar", betont Lindmeier. Durch diese eigene Lernerfahrung könnten sich die Studierenden eher vorstellen, später selbst mit einer gemischten Gruppe, etwa einer inklusiven Schulklasse, zurechtzukommen.

Bettina Lindmeier hatte die Idee zum Projekt "Gemeinsam Lernen" der Uni Hannover (Foto: Anke-Martina Witt)
Bettina Lindmeier hatte die Idee zum ProjektBild: DW/A.-M. Witt

Inklusiver Unterricht ist noch keine Selbstverständlichkeit

Der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Schülern soll in Deutschland zur Selbstverständlichkeit werden. Ab August haben Eltern im größten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen ein Recht darauf, ihr behindertes Kind an einer Regelschule anzumelden. In anderen deutschen Bundesländern gilt die Inklusion bereits, die Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention 2009 beschlossen hat. Doch es hakt.

Eine aktuelle Studie des Deutschen Menschenrechtsinstituts hat ergeben, dass bislang in keinem Bundesland ein Schulrecht erkennbar ist, das den Aufbau und den Unterhalt eines inklusiven Bildungssystems ausreichend gewährleistet. Laut der Deutschen UNESCO-Kommission sind andere Länder dabei deutlich weiter: In Italien, Norwegen und Schweden besuchen weniger als ein Prozent aller Schüler besondere Bildungseinrichtungen, wie etwa Förderschulen. Der gemeinsame Unterricht in Regelschulen ist dort schon eine Selbstverständlichkeit. In Deutschland dagegen fühlen sich viele Lehrer mit gemischten Klassen überfordert.

Diskussionen auf hohem Niveau

Im Seminar der Leibniz-Universität Hannover haben die Studierenden nun die Möglichkeit, selbst zu erfahren, wie das Lernen in gemischten Gruppen aussieht. Dabei sollen sie sich frei von ihrer späteren Rolle als Lehrende oder Betreuer machen und mit den behinderten Teilnehmern ein Thema erarbeiten. In den vergangenen Jahren haben die Gruppen sich mit den verschiedenen Aspekten von Selbstbestimmung auseinandergesetzt. In diesem Semester geht es um Demokratie und politische Mitbestimmung – Themen, die alle Teilnehmer gleichermaßen etwas angehen.

Jonas, Timo und Thorsten (v.l.) diskutieren darüber, ob in der EU der Anbau von gentechnisch veränderte Pflanzen erlaubt sein sollte (Foto: Anke-Martina Witt)
Jonas, Timo und Thorsten (v.l.) diskutieren über den Anbau von gentechnisch veränderten PflanzenBild: DW/A.-M. Witt

"Mir ist die Äußerung einer Studentin noch gut in Erinnerung, die gesagt hat, sie hätte nie gedacht, dass in dem Seminar Diskussionen auf solch hohem Niveau geführt werden", sagt Professorin Lindmeier. Oft würde behinderten Menschen zu wenig zugetraut. Ihre Umgebung packte sie in Watte. Auch in inklusiven Schulen hätten Lehrende oft die Sorge, dass die behinderten Schüler überfordert sein könnten, beobachtet Lindmeier.

Behinderte Menschen als Gesprächspartner

Die 20-jährige Sonderpädagogikstudentin Katrin will nach ihrem Abschluss als Lehrerin arbeiten. Spätestens dann muss sie mit dem Thema Inklusion umgehen. Das Seminar habe ihr dafür mehr Sicherheit gegeben, meint sie. Die Studierenden könnten sich im Berufsalltag in ihrer Rolle als Lehrende darauf besinnen, wie sie selbst Probleme in einer gemischten Gruppe gelöst hätten, sagt auch Seminarleiterin Dorothee Meyer. Das Seminar solle aber keine Gebrauchsanleitung für den Umgang mit behinderten Schülern liefern, sondern den Studierenden zeigen, dass gemeinsames Arbeiten funktioniert.

Doch nicht nur die Studierenden profitieren von den Erfahrungen aus dem Seminar. Auch die behinderten Teilnehmer nehmen sich selbst als kompetente Gruppenmitglieder wahr. Ihre Meinung werde gehört, so Meyer. Der 50-jährige Jürgen hat deshalb nicht lange gezögert, als die Uni an seinem Arbeitsort, der Werkstatt für behinderte Menschen, Werbung für das Seminar gemacht hat. "Ich bilde mich hier politisch weiter und es ist eine wichtige Lebenserfahrung. Das ist wirklich Inklusion", freut er sich.