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Afghanen fordern Gerechtigkeit

Masood Saifullah/HS24. März 2015

Der grausame Lynchmord an einer Afghanin mitten in Kabul hat die Gemüter aufgewühlt und die afghanische Zivilgesellschaft mobilisiert. Die Frage ist, ob die Schuldigen, wie von vielen erhofft, jemals bestraft werden.

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Afghanistan Lynchmord Demonstration (Foto: DW)
Bild: DW/H. Sirat

Was genau am vergangenen Donnerstag (19.03.2015) in Kabul geschah, als ein wütender Mob eine junge Afghanin namens Farchunda wegen angeblicher Koranverbrennung ermordete und danach ihre Leiche schändete, das wird vielleicht nie geklärt werden.

In Videoaufzeichnungen, die in afghanischen Netzwerken kursieren, sieht man die verschleierte 27-Jährige mit einer Gruppe von Männern erregt diskutieren. Sie sagt, sie habe kein Koranexemplar verbrannt. Einer der Männer sagt zu den anderen, dass sie von den Amerikanern geschickt worden sei. Daraufhin nimmt die Wut der Menge zu. Dutzende Personen, darunter Kinder, schlagen auf die Frau ein und rufen auf Arabisch "Gott ist groß."

Später sieht man das blutende Gesicht des Opfers, immer noch versucht die Frau, die Peiniger von ihrer Unschuld zu überzeugen. Ein junger Mann stößt sie zu Boden, die Menschen schlagen weiter auf sie ein. Ein anderes Video zeigt, wie die Frau, die nicht mehr stehen kann, von einem Dach gestoßen wird. Auch Polizeibeamte kommen in Videoaufzeichnungen der Tragödie vor, in einer umringen sie die Frau, offenbar im vergeblichen Bemühen, sie vor der Menge zu schützen, in einer anderen Aufzeichnung jedoch sind mindestens zwei Uniformierte zu sehen, die auf Farchunda einschlagen. Es gibt auch Aufnahmen vom Anzünden des Körpers, während die Umstehenden zuschauen.

Schah-e-do Schamschera Moschee, in Kabul (Foto: DW)
Bild des Friedens - Die Schah-e-do Schamschera Moschee, in deren Nähe die Tat stattfandBild: DW/H. Sirat

Persönliche Motive eines geschäftstüchtigen Imams?

In den afghanischen Netzwerken wird über die Hintergründe der Tat spekuliert. So heißt es, dass Farchunda, Absolventin einer Religionsschule in Kabul, in der Moschee andere Frauen von abergläubischen Praktiken abhalten wollte. Damit kam sie offenbar einem Imam in derselben Moschee in die Quere - so diese Version -, der sich auf den Verkauf von Papierstücken mit Koran- oder anderen Gebetstexten mit angeblich heilsamer Wirkung (sogenannte Tawiz) verlegt hatte. Dieser Imam soll das Gerücht mit der Koranverbrennung in die Welt gesetzt haben.

Auch über den Geisteszustand des Opfers kursieren verschiedene Vermutungen. Im afghanischen Fernsehen äußerte sich der Vater des Opfers dahingehend, dass seine Tochter wegen Depressionen in Behandlung sei. Diese Aussage nahm er später laut einem Video auf Facebook wieder zurück, er habe diese Aussage unter Druck durch die Polizei gemacht, seine Tochter habe nur unter "normalem" Stress gelitten und deshalb ärztlichen Rat gesucht.

Innenminister Nurulhaq Ulomi sagte am Montag (23.03.2015) im Parlament, dass es bislang keine Beweise für eine angebliche Koranverbrennung gebe. Es gebe Hinweise darauf, dass der Angriff auf die Frau geplant gewesen sei. Nach Angaben des afghanischen Innenministeriums vom Dienstag wurden mittlerweile 28 Verdächtige festgenommen und 13 Polizisten vom Dienst suspendiert.

Protest der Zivilgesellschaft in Kabul (Foto: DW)
Protest der Zivilgesellschaft in KabulBild: DW/H. Sirat

"Wir sind alle an der Tat beteiligt"

Dass angebliche oder reale Koranschändung auch in Afghanistan zu massiven Gewaltausbrüchen führen kann, hat der Vorfall auf der US-Basis Bagram im Jahr 2012 gezeigt. Damals führte die Entdeckung verbrannter Koranexemplare zu mehrtägigen anti-amerikanischen Ausschreitungen im Land, wobei mindestens 30 Menschen ums Leben kamen.

Aber einen solchen Gewaltexzess gegen Leute aus der eigenen Bevölkerung wegen angeblicher Koranschändung wie jetzt hat Kabul mindestens seit dem Ende der Talibanherrschaft nicht mehr erlebt.

"Wir kämpfen gegen die Taliban und den IS, aber was ist der Unterschied zwischen der Regierung und diesen Terroristen, wenn sie eine solche Tat zulässt?“ so die rhetorische Frage von Sohiala gegenüber der Deutschen Welle. Sie gehört zu den Demonstranten, die am Montag und Dienstag zu Hunderten - manche Berichte sprechen von Tausenden - in Kabul auf die Straße gingen, um die Bestrafung der Täter zu fordern. Darunter war auch Mehrab Hussain Sherzad, der Ende 60 ist. Er sagte gegenüber der DW: "Hunderte waren Zeuge dieses Verbrechens. Wir sind alle an dieser Tat beteiligt, denn das ist unsere Gesellschaft. Wir haben Taliban und IS hervorgebracht.".

Frauen tragen den Sarg Fachundas (Foto: Reuters)
Frauen trugen den Sarg Fachundas - gegen islamische BegräbnisregelnBild: Reuters/M. Ismail

"Weckruf für afghanische Gesellschaft"

Die Abgeordnete Shukria Barakzai sagte gegenüber der DW, dass die afghanische Gesellschaft in diesem Vorfall ihr brutales Gesicht zeigt, aber dass die Zivilgesellscaft auch nicht schweigt. "Dieser Vorfall hat die Nation aufgeweckt. Es ist eine Tragödie, aber die brutale Ermordung Farchundas war für die Afghanen eine Lehre."

Die Empörung war als Reaktion auf die Tat aber keineswegs einhellig. Die Regierung hielt sich zunächst bedeckt, während in den sozialen Medien und in Kreisen von Frauenrechtlerinnen die Verurteilung sofort sehr stark war. Allerdings wurde in der Bevölkerung, aber auch in Regierungs- und geistlichen Kreisen Lob für die mörderische Menge geäußert, da sie islamische Werte verteidigt habe. Die Woge der Verurteilung wurde dann mit der Veröffentlichung immer neuer Videos über die Tat immer stärker.

Unter anderem zeigte sich das beim Begräbnis der Ermordeten am Sonntag. In krasser Verletzung der islamischen Begräbnisregeln trugen Frauen den Sarg zum Grab, was normalerweise Männern vorbehalten ist.

Einen Tag nach der Tat wurden zunächst vier Personen verhaftet, weitere Verhaftungen folgten in den nächsten Tagen, insgesamt 13 Polizeibeamte, die sich am Tatort aufgehalten hatten, wurden vom Dienst suspendiert. Präsident Ghani setzte kurz vor seiner Abreise in die USA eine Untersuchungskommission zur Aufklärung des "abscheulichen" Verbrechens ein. Die Abgeordnete Shukria Barakzai gibt sich optimistisch: "Wenn die Regierung die Beteiligten an diesem Verbrechen bestraft, dann werden die Afghanen zukünftig anders handeln und die Menschen werden wissen, dass in solchen Fällen Gerechtigkeit geübt werden wird."