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Bobs-Award für "475"

Anne Le Touzé9. Juni 2013

Die Macher der Kampagne "475LeFilm" wollten auf sexuelle Gewalt gegen Frauen in Marokko aufmerksam machen. Mit Erfolg: Die Initiative erhielt den Preis für "Best Social Activism" der Bobs 2013.

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Szene aus dem Film 475 - jemand hält ein Porträt der toten Amina in die Kamera. Copyright : Naji Tbel
Bild: Naji Tbel

Als Nadir Bouhmouch im März 2012 vom Amina Filalis Selbstmord hörte, war er wie viele anderen Menschen schockiert. Schockiert darüber, dass sich ein 16-jähriges Mädchen das Leben nahm, nachdem ein Richter sie mit ihrem Vergewaltiger verheiratet hat. Schockiert, weil er als gebürtiger Marokkaner noch nie vom Artikel 475 des Strafgesetzbuches gehört hatte, der diese Hochzeit möglich machte.

Aminas Geschichte und die weltweite Medienresonanz lieferten dem 22 Jahre alten Studenten, Menschenrechtsaktivisten und Regisseur den Stoff für seinen zweiten Dokumentarfilm. "475: When Marriage becomes a punishment" wurde mit Hilfe von Internetnutzern aus der ganzen Welt per Crowdfunding finanziert und ohne jegliche Genehmigung gedreht. Die Kampagne wurde zu einem Symbol für den Kampf gegen sexuelle Gewalt in Marokko. Diesen Einsatz hat die Jury der Bobs, dem DW-Preis für Online-Aktivismus, gewürdigt, als "hervorragendes Beispiel für soziales Engagement im Internet".

Die Facebookseite der Initiative 475
Die Initiative 475 auf FacebookBild: facebook.com/475LeFilm

Urteil mit dramatischen Folgen

Im Zentrum des Films steht das tragische Schicksal der jungen Amina. Nadir Bouhmouch und sein 12-köpfiges Team wollten dem Fall gründlich nachgehen. Sie wollten mehr Licht in die Geschehnisse bringen, als bisher in den Massenmedien über Wochen hinweg zu sehen war: Aminas bestürzte Eltern, ein bösartiger Vergewaltiger, der seiner Strafe entkam, ein "barbarisches Gesetz", das Marokko international als mittelalterliches Land erscheinen ließ. "Uns ist schnell klar geworden, dass das Problem viel vielschichtiger war", erzählt der Regisseur. 

Aus Mangel an Beweisen für eine Vergewaltigung hatte der Richter der Stadt Larache, im Norden Marokkos, den Artikel 475 angewandt. Der ermöglicht, dass im Entführungsfall einer Minderjährigen das Opfer seinen Entführer heiraten kann. Wobei es sich bei den "Entführungen" meist um tatsächliche Vergewaltigungen handelt. "Der Richter hat das Gesetz entsprechend ausgelegt und die Hochzeit angeordnet, die Eltern haben zugestimmt", erklärt Houda Lamqaddam, Teammitglied und Stimme des Films. Nur so nämlich konnte die Ehre der Familie gerettet werden. Das Mädchen wurde nicht nach seiner Meinung gefragt. Ein Jahr nach der Hochzeit beging Amina Selbstmord mit Rattengift.

Das Filmteam interviewt Aminas Vater vor seinem Haus. Copyright : Naji Tbel
Das Filmteam spricht mit Aminas VaterBild: Naji Tbel

Patriarchale Gesellschaft

Aminas verzweifelte Geste hat in Marokko eine Empörungswelle ausgelöst. Seitdem fordern Frauenrechtsorganisationen die Abschaffung des Artikels 475. Man könne jedoch die Schuld nicht allein auf das Gesetz schieben, betont die junge Houda Lamqaddam. "Es ist ein kulturelles Problem. In ländlichen Regionen werden viele solcher Hochzeiten arrangiert - auch ohne Richter."

Man sollte vor allem die Mentalitäten ändern und nicht die Gesetze, bestätigt Nadir Bouhmouch. Seit der Verfassungsänderung von 2011 sind Männer und Frauen in Marokko theoretisch gleichgestellt. Hinter der Fassade ist die marokkanische Gesellschaft allerdings weiterhin stark vom Patriarchat geprägt.

Das andere Opfer

Im Film wird das Ausmaß des Problems noch deutlicher, als das Team Aminas Heimatdorf besucht. Vor laufender Kamera berichtet Chouâa, die zweite Ehefrau von Aminas Vater, wie ihr Mann sie schlägt und sexuell missbraucht. "Jeder im Dorf hat darüber Bescheid gewusst, dass sie Opfer von häuslicher Gewalt war", erinnert sich Houda Lamqaddam. "Keiner hat etwas gesagt oder unternommen." Vergewaltigung innerhalb der Ehe werde in Marokko nicht bestraft, so etwas existiere einfach nicht im Gesetz, erzählt Houda. "Wir wollten mit dem Film zeigen, wie verbreitet solche Fälle sind."

Houda Lamqaddam wurde selbst mit 17 Jahren vergewaltigt. Die Begegnung zwischen ihr und Chouâa brachte eine unerwartete Wendung: Nach dem Besuch des Teams fand Chouâa den Mut, mit ihren Kindern ihren Mann zu verlassen und suchte Hilfe bei einer Frauenanlaufstelle. Im Film erfährt man allerdings, dass es wahrscheinlich noch lange dauern wird, bis die Scheidung ausgesprochen ist.

Ziviler Ungehorsam

Nadir Bouhmouch ist fest davon überzeugt, dass im Kampf um Frauenrechte Männer eine große Rolle spielen können. Seit den Massendemonstrationen im Frühling 2011 wehe in Marokko ein neuer, frischer Wind. Veränderung sei in Gange, meint der junge Regisseur, der seinen ersten Film "My Makhzen and Me" dem Demokratiestreben der marokkanischen Jugend widmete.

Das Team der Initiative 475 Copyright : Naji Tbel
Bobs - Gewinner in der Kategorie "Best Social Activism" - die junge Truppe der Initiative 475Bild: Naji Tbel

Einige Teammitglieder von 475 hat er damals kennengelernt. Wie er sind es junge Studenten, "die etwas bewegen wollen". Zusammen gründeten sie das Kollektiv "Guerrilla Cinema".

Im Vorspann des Films kündigen sie an: "Dieser Film wurde illegal produziert, als ein Akt des zivilen Ungehorsams, um nach Freiheit für Meinung und Kunst in Marokko zu rufen". Über die amerikanische Crowdfunding-Plattform Kickstarter bekam das Team mehr als 7000 Dollar zusammen. So konnten sie den Film "professionell" post-produzieren, unter anderem um die Erzählerstimme auf Englisch und Marokkanisch-arabisch aufzunehmen.

Seit der Film Anfang 2013 veröffentlicht wurde, ist er im Internet frei zugänglich und wird auf Anfrage auch öffentlich gezeigt. Im Marokko wird der Name Amina Filali noch lange im kollektiven Gedächtnis bleiben. Das Team von 475 möchte, dass mehr übrig bleibt als das tragische Einzelschicksal einer jungen Frau.