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1945: Eine Jugend in Trümmern

Sarah Judith Hofmann 20. Juni 2014

Nach der Kapitulation wollen viele Deutsche den Schutt wegräumen und zwölf Jahre Hitler am liebsten vergessen. Dabei wurden 17-Jährige noch kurz zuvor als "letztes Aufgebot" in den Krieg geschickt.

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Trümmerfrauen bilden eine Kette (Foto: Ullstein)
Bild: ullstein bild

Zu Beginn des Jahres 1945 kämpfen sich die alliierten Truppen von zwei Fronten aus nach Deutschland durch. Daran kann auch Adolf Hitler nichts mehr ändern. Am 30. April begeht er Selbstmord. Doch die deutschen Truppen kapitulieren erst, als die Rote Armee in Berlin einmarschiert. Am 8. Mai ist der Zweite Weltkrieg in Europa endgültig vorbei.

Doch nicht nur Deutschland steht vor einem Trümmerhaufen. Der Krieg hat Millionen Menschen den Tod gebracht. Fast sieben Millionen Deutsche haben den Krieg mit ihrem Leben bezahlt, mehr als die Hälfte davon Zivilisten. Großbritannien hat 430.000 Kriegstote zu beklagen. In der Sowjetunion sind fast 20 Millionen Soldaten und Zivilisten tot.

Mehr als sechs Millionen Juden haben die Nationalsozialisten im Holocaust umgebracht. Es ist der größte Völkermord aller Zeiten.

"Jugend führt Jugend"

Eine Gruppe Berliner Pimpfe vor ihrer Abreise zum Reichstag der NSDAP in Nürnberg 1938. (Foto: picture-alliance/dpa)
Berliner Hitlerjungen vor ihrer Abreise nach Nürnberg zum Reichsparteitag 1938Bild: picture-alliance/dpa

Dann kommt die berühmte "Stunde Null". Und für nicht wenige Jugendliche in Deutschland bricht eine Welt zusammen. Sie sind unter der Naziherrschaft aufgewachsen, von der menschenverachtenden Ideologie Hitlers von klein auf geprägt und in den letzten Wochen und Monaten des Krieges noch einmal zum Kämpfen aufgestachelt worden. Nun müssen sie feststellen: All das, was man ihnen in den zwölf Jahren zuvor immer wieder eingeprägt hat - vom Antisemitismus bis zum deutschen "Endsieg" - stellt sich als gigantisches Gerüst aus Lügen heraus. Ein Schock.

Bereits unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers war die "Hitlerjugend" (HJ) zur einzig erlaubten Jugendorganisation gemacht worden. Wenige Monate vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wird die Mitgliedschaft Pflicht. Nahezu jeder junge Deutsche, der nicht wie Juden oder Sinti und Roma bereits aufgrund seiner bloßen Existenz diskriminiert wird, ist fortan Mitglied in der HJ. Hier wird nach Alter und Geschlecht getrennt. Im Deutschen Jungvolk und im Jungmädelbund sind die 10- bis 14-Jährigen organisiert, in der HJ im engeren Sinne und im Bund Deutscher Mädel (BDM) die Jungen und Mädchen zwischen 14 und 18 Jahren.

Das Angebot ist attraktiv: wandern, singen, turnen - gemeinsam mit Gleichaltrigen, fern der strengen Regeln der Erwachsenen. "Jugend führt Jugend", heißt es in der HJ. So werden früh junge Führungspersonen herangezogen.

Mädchen sollen auf ihre Aufgabe als Mütter vorbereitet werden, die zukünftigen Soldaten lernen stramm zu stehen und zu gehorchen. Bei Geländespielen und Wehrsport - so wird den meisten noch bis 1945 klar - trainieren sie für den Einmarsch in fremde Länder. Auch in der Schule sollen die jungen Menschen nicht mehr zu selbstständigem Denken und Handeln erzogen werden, sondern zu Hingabe an "den Führer" und blindem Gehorsam.

Eine freie Jugend? Kaum möglich

Kölner und Leverkusener Jugendliche auf einer Rheinkribbe, um 1939/40 (Fotograf: unbekannt)
Wenige machen nicht mit bei der Hitlerjugend. Im Bild: Kölner und Leverkusener "Edelweißpiraten" um 1939/40.Bild: NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Filmplakat von "Der Hitlerjunge Quex" (1933) aus der Ausstellung "Aufbruch der Jugend - Deutsche Jugendbewegung zwischen Selbstbestimmung und Verführung" vom 26. September 2013 – 19. Januar 2014 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. (Foto: DW/S.Hofmann)
Propaganda mit den Mitteln des Films: "Der Hitlerjunge Quex" (1933) handelt von einen Jungen, der als Soldat den "Heldentod" stirbt.Bild: DW/S.Hofmann

Jüdische Schüler bekommen bereits seit der Machtübernahme Hitlers die Feindlichkeit von Lehrern und Mitschülern zu spüren. Seit 1938 dürfen sie nur noch auf jüdische Schulen gehen. Jüdische Organisationen versuchen über die so genannte "Jugend-Alija" und "Hachscharah-Gemeinschaften", Jugendliche auf eine Ausreise nach Palästina vorzubereiten, doch nur wenigen gelingt rechtzeitig die Flucht. Im Herbst 1941 beginnt die systematische Deportation der jüdischen Bevölkerung in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager.

Eine freie Jugend jenseits der streng kontrollierten Vorgaben der Nationalsozialisten ist kaum möglich. Seit Anfang 1940 ist Jungen und Mädchen unter 18 Jahren der Aufenthalt auf der Straße nach Einbruch der Dunkelheit untersagt. Und es gibt Kleidervorschriften. Jungen tragen kurz geschnittenes Haar, dazu HJ-Uniform, die Mädchen deutsche Zopffrisuren - und ungeschminkt sollen sie sein. Für die Einhaltung der Vorschriften sorgen reichsweit knapp 50.000 Hitlerjungen, die im Streifendienst die Kleiderordnung kontrollieren. Sie schneiden Jungen zu lange Haare ab und spucken geschminkten Mädchen ins Gesicht.

Jugend, die Widerstand leistet

Jean Jülich - Es war in Schanghai

Und doch gibt es Jugendliche, die sich der HJ widersetzen. In Hamburg ist es die Swing-Jugend, die sich zu Tanzabenden trifft und die Haare nach US-amerikanischem Vorbild mit Pomade frisiert. Und dafür ihr Leben riskiert. Im Herbst 1940 werden 64 jugendliche Swing-Fans verhaftet. Wer über 18 ist, wird direkt an die Front geschickt.

Im Rheinland tragen einige junge Rebellen Edelweiß am Revers - und werden schnell als "Edelweißpiraten" bekannt. Sie unternehmen Radtouren, spielen Gitarre und veralbern bekannte HJ-Lieder mit neuen Texten. Damit riskieren 14- bis 17-Jährige, von der Gestapo gefoltert und in Konzentrationslager deportiert zu werden.Und es gibt Ausnahmepersönlichkeiten wie Hans und Sophie Scholl, eine Zeit lang selbst bei HJ und BDM, die begreifen, bei welch menschenverachtendem Regime sie mitmachten. Dass sie auf Flugblättern ihre Mitstudenten der Münchner Universität wachrütteln wollen, bezahlen sie mit dem Leben. Am 22. Februar 1943 werden sie von den Nationalsozialisten ermordet.

Kindersoldaten

Beim weitaus größten Teil deutscher Jugendlicher aber fruchtet die nationalsozialistische Indoktrination. Als nicht mehr genug erwachsene Männer für die Wehrmacht zur Verfügung stehen, da sie entweder schon an der Front oder bereits tot sind, muss die Jugend einspringen. 1943 deklariert der neue Reichsjugendführer Arthur Axmann den "Kriegseinsatz der deutschen Jugend" - und schickt Schüler ab 17 Jahren in den Krieg.

Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst (v.l.), Mitglieder der Widerstandsgruppe 'Weiße Rose' am Münchener Verladebahnhof. Das Foto entstand unmittelbar vor dem Abtransport der Studentenkompanie an die Ostfront am 22.07.1942 (Foto: Ullstein)
Hans Scholl, Sophie Scholl und Christoph Probst (v.l.). Sie alle werden von den Nazis ermordet.Bild: ullstein bild/AKG/George J. Wittenstein

Die meisten von ihnen werden als sogenannte "Flakhelfer" in der Flugabwehr eingesetzt. Bis 1945 sind etwa 200.000 junge Luftwaffen- und Marinehelfer im Einsatz. Das Durchschnittsalter aller im Mai 1944 gemusterten Männer beträgt 16 Jahre und sieben Monate.

Auch Mädchen leisten Kriegsdienst - nur eben zum größten Teil an der "Heimatfront". Sie sammeln Altkleider, stricken Pullover und Socken für die Wehrmacht, ackern als Erntehelferinnen. 1945 sind eine halbe Million Wehrmachtshelferinnen zwischen 16 und 26 Jahren im Einsatz. Zwei Drittel von ihnen hatten sich freiwillig gemeldet.

Filmausschnitt aus "Die Brücke" (1959) über eine Gruppe 16-jähriger Schulfreunde, die in den letzten Kriegstagen 1945 in die Wehrmacht eingezogen werden. Szene mit Szene mit Fritz Wepper als Mutz, Folker Bohnet als Scholten, Günther Hoffmann als Bernhard, Volker Lechtenbrink als Hager, Michael Hinz als Forst (von rechts). Regie: Bernhard Wicki (Foto: Foto: Maurizio Gambarini dpa/lno)
Blutjung: Filmausschnitt aus "Die Brücke" (1959) über eine Gruppe 16-jähriger Schulfreunde, die in den letzten Kriegstagen 1945 in die Wehrmacht eingezogen werden. Der Film basiert auf wahren Begebenheiten.Bild: ullstein bild

Ein neues Leben - in Trümmern

Und dann kommt der 8. Mai 1945: die deutsche Kapitulation. Endlich Frieden. Für die Jugend ein unbekannter Zustand. Nicht wenige derjenigen, die den Krieg als Kinder und Jugendliche erlebt haben, sind traumatisiert: Von den Erfahrungen, die sie an der Front gemacht haben oder im Bombenkrieg deutscher Städte, häufig ohne Vater und Mutter, verängstigt in Luftschutzkellern oder Geschwister in Trümmern suchend. Oder weil sie in den Wochen und Monaten nach Kriegsende vergewaltigt wurden - wie schätzungsweise zwei Millionen deutsche und etliche weitere Millionen Frauen im Zweiten Weltkrieg.

Doch die "Stunde Null" heißt in Deutschland Neuanfang - Sinnbild dafür sind die Trümmerfrauen, die den Schutt des Zweiten Weltkriegs wegräumen. Dass sich so einfach nicht alles vergessen lässt, zeigen psychologische Studien heute. Sie zeigen, wie tief traumatisiert die Kriegskindergeneration ist. Und wie viel sie von ihren Traumata an ihre eigenen Kinder weitergegeben hat.

Trümmerfrauen in der Ganghoferstrasse in Berlin Neukölln - 1946 nachträglich koloriert. (Foto: Ullstein)
Bild: ullstein bild

*Anmerkung:
Das Lied "Es war in Schanghai" wird in dieser Aufnahme des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln von dem einstigen Edelweißpiraten Jean Jülich gesungen. 2011 starb Jean Jülich in seiner Heimatstadt Köln. Bis zuletzt engagierte er sich gegen Rechtsradikalismus.

Zum Weiterlesen:

Fred Grimm: "Wir wollen eine andere Welt." Jugend in Deutschland 1900-2013, Haffmanns & Tolkemitt, Berlin 2010

Harald Stutte / Günter Lucks: Hitlers vergessene Kinderarmee, rororo 2014