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1500 Jahre Gedankenaustausch

Ingun Arnold 13. Februar 2006

Im Mittelalter leisteten islamische Gelehrte in Europa geistige Entwicklungshilfe. Kontakte gab es auch in den Jahrhunderten danach, doch seit der Aufklärung ist aus dem Miteinander mehr ein Gegeneinander geworden.

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Fremde Kunst und KulturBild: AP
Abù'Alì al-Husayn Ibn Sina (980 - 1037)
Abù'Alì al-Husayn Ibn Sina (980 - 1037) empfängt seine MuseBild: npb

Zwei islamische Gelehrte haben ein ganzes Zeitalter aus der Vergessenheit gerettet: Ibn Sina und Ibn Rushd. In Europa sind sie als Avicenna und Averroes bekannt. Avicenna war einer der berühmtesten Ärzte, die es je gab, Averroes ein einflussreicher Philosoph. Averroes lehrte in Cordoba im heutigen Spanien, Avicenna in Persien. Obwohl tausende Kilometer und ein ganzes Jahrhundert voneinander entfernt, hatten sie eine gemeinsame Vorliebe: die antike Philosophie.

Keine Ahnung von Antike?

Abu'l-Walid Ibn Rushd (1126-1198)
Abu'l-Walid Ibn Rushd, besser bekannt als Averroes (1126-1198)Bild: npb

"Averroes hat Kommentare zu Aristoteles verfasst. Die sind via Nordafrika nach Spanien gekommen, dort ins Lateinische übersetzt worden und nach Paris gelangt." Dominik Perler, Professor für Philosophiegeschichte an der Humboldt-Universität in Berlin, zeichnet die verschlungenen Wege des Kulturaustauschs nach. "In Paris haben sie dann Leute wie etwa Thomas von Aquin gelesen. Und später sind die lateinischen Texte wieder ins Arabische übersetzt worden." Ohne die arabischen Gelehrten wüssten die Europäer kaum etwas von der Antike.

Viele Originalschriften der Antike sind verloren gegangen; die arabischen Übersetzungen und Kommentare sind vielfach die einzigen Quellen. Auch in Medizin, Mathematik oder Astronomie waren die Araber Vorbild. Der Austausch funktionierte, denn die Gelehrten hatten dieselben Fragen: Was ist Wissenschaft? Wie argumentiert man? Wie überprüft man Argumente? "Sie haben nicht gefragt, ob es auf diese Fragen eine christliche oder islamische oder jüdische Antwort gibt", berichtet Perler. "Sie hatten gemeinsame Standards."

Das Ende der "selbstverschuldeten Unmündigkeit"?

Antike (Breitband-Versuch)
Bild: dpa

Spätestens seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert ist der Austausch zwischen dem Islam und Europa eher mühsam. Die Religion verlor in Europa massiv an Einfluss. Sie machte Platz für die Naturwissenschaften. Ein aufgeklärter Mensch glaubt nicht blindlings, was gepredigt wird, sondern hinterfragt kritisch. Zwischen Staat und Kirche wird klar unterschieden und allgemeine Bürgerrechte wurden etabliert. Die gelten für jeden, unabhängig vom Glauben. Die Aufklärung muss eine Provokation gewesen sein für die arabische Welt.

Aus der Sicht eines islamischen Gelehrten ist es unsinnig, Gott und Erkenntnis zu trennen. Wie sonst, wenn nicht mit dem Verstand, kann der Mensch die Welt erforschen und das Wesen Gottes erkennen? Auch die Scharia, die islamische Gesetzeslehre von Recht und Pflicht, gilt für alle Muslime. Problematisch wird es allerding dort, wo der Strafkodex besonders rigoros ausgelegt wird, und wenn diktatorische Gelehrte die Oberhand gewinnen und ihre Religion als Mittel zur politischen Macht missbrauchen. Ein Bürgerrecht auf freies Denken, Reden und Handeln kommt für sie nicht in Frage.

Malediven: Sonnenaufgang über dem Indischen Ozean (Religionsdossier)
Ex Oriente LuxBild: dpa

Im Westen wirkt das arg befremdlich. Braucht der Islam vielleicht eine nachträgliche Aufklärung? "Einerseits ja, weil es ein reflektiertes Nachdenken darüber, was der Einzelne mit seinem Verstand machen kann, braucht. Nein, weil man nicht Kant künstlich importieren sollte", argumentiert Perler. "Aufklärung muss sich innerhalb einer Kultur entwickeln."

Was ist Europa?

Natürlich tauschen sich die Intellektuellen beider Kulturkreise weiterhin aus, arabische Autoren werden in europäische Sprachen übersetzt und umgekehrt. Aber noch intensiver pflegen wohl beide ihre Vorurteile: Rückständig, fanatisch und unmündig seien die Muslime, die Leute im Westen gottlos, entwurzelt und korrupt. Muslimische Einwanderer bleiben in Europa lieber unter sich. Ihre Sitten und Bräuche sind ihren neuen Landsleuten fremd. Das Interesse aneinander hält sich in enggesteckten Grenzen. Die Gründe dafür liegen nicht immer nur bei denen, die neu dazugekommen sind.

Jahresrückblick 2005 Oktober EU Türkei
Bild: AP

"Es gibt auch die berechtigte Frage an uns: Wie gehen wir mit Religion um? Wie schaffen wir es, dass Jugendliche etwas über andere Religionen lernen?", fragt Perler und macht einen Vorschlag: "Ich glaube, eine wichtige Selbstheilung besteht darin, dass man sich auf die eigenen Wurzeln besinnt und gleichzeitig sich vergleicht mit anderen Traditionen." Dennoch bleiben mehr Fragen als Antworten: Warum tut sich Europa so schwer mit seinem Erbe? Und damit, zu zeigen, was "typisch europäisch" ist? Europa ist ohne die Auseinandersetzung mit dem Islam nicht denkbar. Daran hat sich seit dem Mittelalter nichts geändert.