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Speed Reading

17. Dezember 2009

Immer mehr Fortbildungsorganisationen bieten Schnell-Lese-Kurse an und Firmen schicken ihre Mitarbeiter dort hin, um ihre Lesegeschwindigkeit zu verdoppeln oder sogar zu verdreifachen. Ein Selbstversuch.

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Diagramm (Die Bilder wurden von der Firma Integrata zur Verfügung gestellt)
Bild: integrata

Um es gleich zuzugeben: Ich bin eine langsame Leserin. Allerdings hätte ich das vor dem Schnell-Lese-Kurs nicht vermutet, schließlich bin ich eine geübte Vielleserin. Doch die Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei 200 Wörtern pro Minute. John F. Kennedy soll, wie ich erfahre, über 1000 Wörter geschafft haben. Ich bringe es gerade einmal auf 178 – zu Beginn des Schnell-Lese-Kurses zumindest. Doch Seminarleiter Jürgen Hampe versichert, dass sich das ändern wird. "Pointiert könnte man sicher sagen, man lernt zum zweiten Mal lesen", erläutert er und ergänzt jedoch: "Das ist ein sehr spannender Prozess, der aber an das anknüpft, was man kann."

Komplizierte Gehirnleistung

Rechte und linke Gehirnhälfte (Die Bilder wurden von der Firma Integrata zur Verfügung gestellt)
Bild: integrata

Wer an einem Schnell-Lese-Kurs teilnimmt, lernt viel über die hoch komplizierte Gehirnleistung, die jeder Mensch beim Lesen vollbringt. Das Auge nimmt eine bestimmte Anzahl abstrakter Zeichen wahr, die das Gehirn erst in sinnvolle Wörter und Sätze überträgt. Lesenlernen ist ein mühsamer Prozess, an den man sich als Erwachsener kaum noch erinnert. Anfangs spielt das laute Lesen eine bedeutende Rolle, denn die Buchstaben müssen mit dem Klang der Sprache in Übereinstimmung gebracht werden. Wie Kinder lesen auch die meisten Erwachsenen immer nur Wort für Wort, dabei sprechen sie innerlich das Gelesene mit. Zwei Geschwindigkeitsbremsen beim Lesen, die mit einer neuen Lesetechnik überwunden werden sollen.

Lese-Training wie im Fitnessstudio

"Im Mittelpunkt steht", so Seminarleiter Hampe, "das visuelle Lesen". Das menschliche Auge habe eine Blickspanne von drei bis dreieinhalb Zentimetern und die müsse man "optimal nutzen". Statt jedes Wort einzeln soll das Auge im Schnell-Lese-Training ganze Wortgruppen auf einmal erfassen. Drei bis vier Wörter kann man gleichzeitig in den Blick nehmen. Eine Lesetechnik, die man mit viel Übung erlernen kann. Doch das ist schwer, weil weder das Auge, noch das Gehirn darin geübt sind. Sehnerven und Denkapparat fühlen sich wie im Fitnessstudio. Meine Blicke hetzen über das Übungsblatt. Ich steigere meine Wortmenge von 178 auf über 500 pro Minute. Der Inhalt der Texte allerdings bleibt jedoch auf der Strecke. Dabei lautet der Titel des Seminars "Schnell lesen und verstehen". Zweifel kommen auf.

Die innere Stimme im Kopf

Das sei nur am Anfang so, beruhigt Seminarleiter Hampe: "Weil man zunächst mal die Blickprozesse stabil in ein neues Tempo bringen muss. In der Zeit, wo man ständig über die Lesetechnik nachdenkt, kann man natürlich nicht so viel verstehen. Aber sobald wir das automatisiert haben, ist das das Gleiche wie das bisherige Lesen auch. Man denkt nicht mehr drüber nach, man macht es einfach." Klingt einleuchtend. Dennoch verschwindet etwas beim Schnellleseverfahren: das Gefühl für die Sprachmelodie. Denn ab einer bestimmten Geschwindigkeit kommt die innere Stimme im Kopf nicht mehr mit. Kann man so schöne Literatur lesen, gar Gedichte? Jürgen Hampe hat es versucht: "Bei manchen geht das sogar und bei manchen würde ich empfehlen, lieber bei der alten Methode zu bleiben."

Die Informationsflut verlangt neue Lesetechniken

Mann am Schreibtisch (Die Bilder wurden von der Firma Integrata zur Verfügung gestellt)
Bild: integrata

Elke Bittner und Stefan Gruber arbeiten beide in der IT-Branche, sie in der Großrechnerprogrammierung, er in der Softwareentwicklung im Luftfahrtbereich. Beide sind im Beruf mit einem enormen Lesepensum konfrontiert. Eine Belastung, die viele teilen. So klagt Elke Bittner über die "Informationsflut", die auf einen zurolle und immer größer werde: "Es wird immer erwartet, dass man das alles auch immer präsent hat – sowohl im privaten wie im beruflichen Bereich. Das kann man, glaube ich, nur mit neuer Technik bewältigen." Die neue Technik darf sich allerdings keinesfalls auf das reine Schnelllesen beschränken. Denn dieses Wahrnehmungstraining allein hilft nicht dabei, die Informationen zu verarbeiten, wie Stefan Gruber bestätigt: "Aus meiner Sicht ist es die Frage der Effektivität: Lesen wir das Richtige? Und wenn wir etwas lesen, ist es natürlich für mich persönlich auch die Frage: Kann ich es effizient lesen?"

Geschwindigkeit allein bringt gar nichts

Seminarleiter Jürgen Hampe jedenfalls hat sein Schnell-Lese-Training durch eine ganze Reihe anderer Lerntechniken ergänzt, die dabei helfen Informationen zu bewerten, zu sortieren und zu verarbeiten. Nicht alle Lesekurse bieten das. Doch nur so kann Schnell lesen wirklich effektiv sein, Geschwindigkeit allein bringt gar nichts. Wie beruhigend! Ich werde mich nun zurücklehnen und gemächlich Marcel Prousts 10-bändigen Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" zur Hand nehmen.

Autorin: Christel Wester

Redaktion: Sabine Oelze