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KonflikteOzeanien

Warum in Neukaledonien die Gewalt derzeit eskaliert

16. Mai 2024

Welche Interessen hat Frankreich in Neukaledonien? Wer sind die Kanaken? Und wie kommt Aserbaidschan dabei ins Spiel? Antworten auf ein paar grundlegende Fragen, um die Situation im Südwestpazifik zu verstehen.

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Ein ausgebranntes Auto an einem Kreisverkehr, dahinter ein Mann mit einer bunten Flagge
Unruhen für die Unabhängigkeit: mit einer Flagge der Kanakischen und sozialistischen Front der nationalen Befreiung zeigt dieser Mann, auf welcher Seite er im aktuellen Konflikt in Neukaledonien stehtBild: Delphine Mayeur/dpa/picture alliance

Gut 16.500 Kilometer liegen zwischen Paris und dem französischen Überseegebiet Neukaledonien - viel weiter können zwei Punkte auf der Erde gar nicht voneinander entfernt sein. Eigentlich wollte Präsident Emmanuel Macron ein neues Atomkraftwerk in der wesentlich näher gelegenen Normandie besuchen - doch nun muss er von Paris aus in Krisensitzungen in den Südpazifik blicken.

Ein zwölftägiger Ausnahmezustand, die Entsendung 1000 zusätzlicher Sicherheitskräfte und eine Tiktok-Sperre sollen helfen, die öffentliche Ordnung auf der Inselgruppe wiederherzustellen. Seit Tagen schaukelt sich eine Gewaltwelle hoch, mindestens fünf Menschen wurden bereits getötet, Hunderte verletzt. Mehr als 200 mutmaßliche Krawallstifter wurden festgenommen. Im Folgenden beantworten wir einige grundlegende Fragen, um die Situation zu verstehen.

Wo liegt Neukaledonien - und wieso gehört es überhaupt zu Frankreich?

Neukaledonien liegt im südwestlichen Pazifik, gut 1300 Kilometer vor der Küste Australiens. Neben der länglichen Hauptinsel Neukaledonien gehören auch einige kleinere Inseln dazu. Entdeckt und erstmals besiedelt wurde sie laut Historikern schon mehr als 2000 Jahre bevor James Cook 1774 als erster Europäer Neukaledonien betrat. Weil die am Rand der Tropen gelegene Insel ihn an das wesentlich kühlere Schottland (lateinisch: Caledonia) erinnerte, gab er ihr den bis heute gebräuchlichen Namen.

Ein Auto brennt auf der Provinzstraße Normandie außerhalb des Ortes
Qualm zwischen Palmen: mit Barrikaden wollen Aufständische das öffentliche Leben störenBild: Delphine Mayeur/dpa/picture alliance

In den folgenden Jahrzehnten ließen sich Seefahrer und christliche Missionare aus Großbritannien und Frankreich auf der Insel nieder. 1853 ließ der damalige französische Herrscher Napoleon III. Neukaledonien offiziell in Besitz nehmen. Zunächst war es vor allem eine Strafkolonie, später wurden Mineralien abgebaut.

Wer sind die Kanaken?

Ab 1887 galt in allen französischen Kolonien, und somit auch in Neukaledonien, der sogenannte Code de l'indigénat, wörtlich übersetzt Eingeborenen-Gesetz. Es unterwarf die indigenen Bevölkerungen strengeren Sonderregeln und schloss sie von bestimmten französischen Bürgerrechten aus. In Neukaledonien heißt die indigene Bevölkerung Kanaken. Im Deutschen hat das Wort einen politisch unkorrekten Unterton, weil manche es als abschätziges und verallgemeinerndes Schimpfwort für außereuropäisch gelesene Personen verwendeten - inzwischen nutzen migrantische Jugendliche in Deutschland es allerdings auch als Selbstbezeichnung.

Jemand schwenkt an einer Straße eine blau-rot-grüne Fahne mit gelbem Kreis und einem Symbol in der Mitte
Protest in den Farben der Kanakischen sozialistischen BefreiungsfrontBild: Theo Rouby/dpa/picture alliance

Während der Kolonialzeit starteten Kanaken mehrere Versuche, ihre französischen Fremdherrscher abzuschütteln. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Kanaken in Neukaledonien französische Staatsbürger; in einem zweiten Schritt wurden ihnen sämtliche Bürgerrechte zuerkannt. Heute stellen sie gut 40 Prozent der rund 270.000 Bewohner Neukaledoniens.

Wie blickt die Bevölkerung Neukaledoniens auf die Unabhängigkeitsfrage?

1946, nach dem Zweiten Weltkrieg, ordnete Frankreich seine damaligen Kolonien politisch neu - dazu gehörte auch, dass die Inseln in Pazifik, Karibik und anderen Meeren zu Überseegebieten transformiert wurden. Während die Kolonien in Afrika nacheinander unabhängig wurden, blieben die Überseegebiete bis heute französisches Staatsgebiet. In fast allen (außer Neukaledonien - dort gibt es einen an den Euro gekoppelten lokalen Franc) wird mit dem Euro bezahlt; auch an der Wahl für das ferne Europäische Parlament nehmen die Bewohner teil. Erst 2022 gliederte Frankreich das bisherige Übersee-Ministerium dem Innenministerium ein.

In Neukaledonien fordern Teile der kanakischen Bevölkerung weiter die Unabhängigkeit von Frankreich. Unterstützt werden sie dabei auch von den Vereinten Nationen: 1986 beschloss die Generalversammlung, Neukaledonien erneut auf die Liste der zu dekolonisierenden Länder zu setzen. Nach einer Gewaltwelle wurde 1988 ein Abkommen für mehr Autonomie besiegelt.

Eine Mehrheit der Bevölkerung befürwortet jedoch den Status Quo, insbesondere weil Neukaledonien somit Geld aus dem französischen Staatshaushalt erhält: Die Regierung des benachbarten Australien hat errechnet, dass 2020 die knapp 1,5 Milliarden Euro aus Paris fast 20 Prozent zur lokalen Wirtschaftsleistung beigetragen haben.

Größtenteils leere Supermarktregale; im Hintergrund steht ein Polizist mit schusssicherer Weste
Die aktuelle Krise hat viele Neukaledonier zu Hamsterkäufen veranlasst - nachdem zunächst viele Kunden Schlange standen, sehen manche Supermärkte inzwischen so ausBild: DELPHINE MAYEUR/AFP

2018 und 2020 votierten in Referenden nur 43,6 bzw. 46,7 Prozent der Teilnehmenden für eine Unabhängigkeit. Ein drittes Referendum 2021 wurde von den meisten Befürwortern boykottiert.

Woran entzündete sich der aktuelle Konflikt?

Auch aktuell geht es um die politische Mitbestimmung: Die Wut vieler Unabhängigkeitsbefürworter richtet sich gegen ein in Paris bereits beschlossenes Gesetz, das zusätzliche Wahlberechtigte für das Provinzparlament ausweisen würde. Aktuell dürfen Franzosen nur mitwählen, wenn sie mindestens seit 1998 in Neukaledonien leben. Nun sollen alle Franzosen teilnehmen dürfen, die seit mindestens zehn Jahren ununterbrochen dort ihren Hauptwohnsitz hatten.

Der französische Präsident Emmanuel Macron begrüßt eine Menschenmenge in Noumea und schüttelt Hände
Präsident Emmanuel Macron hatte Neukaledonien im Juli 2023 besucht - die meisten Menschen dort sind der Republik zugeneigtBild: LUDOVIC MARIN/AFP

Präsident Macron hat das Gesetz noch nicht unterzeichnet - und die gewaltsamen Proteste sollen ihn davon abbringen. Denn die zusätzlichen Wahlberechtigten würden den politischen Einfluss der Unabhängigkeitsbefürworter weiter schmälern.

Warum ist Neukaledonien für Frankreich überhaupt wichtig?

Die Atom- und Vetomacht Frankreich empfindet sich weiter als Weltmacht, die ihre eigenen Interessen in allen Gegenden untermauern will. In Neukaledonien unterhält das französische Militär Luft- und Marinestützpunkte, die dafür von geopolitischer Bedeutung sind. Zudem sind die Rohstoffvorkommen der Insel von großer wirtschaftlicher Bedeutung: 2021 wurden laut US-Schätzungen dort 190.000 Tonnen Nickel abgebaut - nur in Indonesien, den Philippinen und Russland war die Produktion noch höher.

Zwei französische Dassault Rafale Kampfjets auf dem Rollfeld
In der Hauptstadt Noumea sind französische Kampfjets und Kriegsschiffe stationiertBild: LUDOVIC MARIN/AFP

Worüber streiten Frankreich und Aserbaidschan mit Blick auf Neukaledonien?

Der aktuelle Konflikt ruft auch einen anderen weit entfernten Akteur auf den Plan, der Frankreich schon wiederholt Neokolonialismus vorgeworfen hat: Gruppen aus der autoritär regierten Kaukasus-Republik Aserbaidschan solidarisieren sich mit den kanakischen Unabhängigkeitsbefürwortern.

Das Magazin Politico zitiert den früheren neukaledonischen Lokalregierungschef Philippe Gomes gar mit der Aussage, Aserbaidschan finanziere aktiv die Kanakische und sozialistische Front der nationalen Befreiung. Ähnliche Vorwürfe äußerte auch Frankreichs Innenminister Gerald Darmanin im Sender France 2 TV. Die Regierung in Baku wies die Anschuldigungen zurück.